Kapitel 1
Guten Morgen, New Orleans! Das gnadenlose Fauchen der Welt prallt auf meinen Schädel, der Whiskey stößt sein rostiges Stilett in meine Kehle und die Sonne straft mit meinen Blick, sobald ich die Augen öffne – so muss es sein, für Leute wie mich.
Ich öffne meine Hand. Ein Schlüssel ruht darin, friedlich wie ein Kind. Er ist lang, makellos golden, mit stattlichem Bart und einem roten Edelstein besetzt. Keinen Schimmer, woher ich den habe.
Keinen Schimmer von nichts, außer davon, dass ich Albright bald wegen der Schulden aufsuchen muss. Da kann man bestimmt was machen. Der gottverdammte Köter hätte doch selbst dann nicht gewonnen, wenn sein Gegner ein Bein weniger und keine Zähne mehr im Maul gehabt hätte. Das wird Albright doch auch so sehen, oder nicht? Ach was, er hat bestimmt gewusst, dass es so kommen würde – Fick dich, alter Halsabschneider!
Ich hoffe auf einen Engel. Ein Geist tritt ein.

»Mr. Solomon?«
Nicken.
»Ich heiße Clara Woods.«
»Blake Solomon.«
Nenn mich Blake, Clara.
Die Echos trunkener Dämonen hallen in meinem Schädel nach. Auch wenn ich nichts mehr weiß, weiß ich doch, dass ich gestern mehr Frauen angesprochen habe, als gut für mich war. Ich lasse den Schlüssel in die Westentasche gleiten. Sie riecht wie die Flasche zu meinen Füßen. Die Weste natürlich, nicht die Frau, die steht leider zu weit weg.
Ich biete der Lady einen Stuhl an, den es nicht gibt, manövriere sie schließlich mit spastischen Armbewegungen auf den Deckel der Seekiste von Onkel Conrad – ruhe er in Frieden –, während ich auf dem Fensterbrett platznehme. Der Atem der Stadt heißkühlt meinen verschwitzten Nacken.
»Ich arbeite für das Jerusalem-Waisenhaus.«
Die Stimme der Woods klingt schrill für ihre 25, vielleicht 30 Jahre.

Sie trägt einen Trompetenrock mit passender Weste, darunter eine Bluse, alles grau und grau und im Widerstreit, was wohl das Nichtssagendste von ihnen ist.
»Im Jerusalem-Waisenhaus.«
»Zwei meiner Kinder sind verschwunden. Jimmy und Catherine.«
»Zwei Kinder, verschwunden…«
»Ausgerissen? Verstorben?«
»Nein.«
Ihre Augen glitzern blau-stählern vor Verachtung.
»So etwas ist selten bei Vierjährigen.«
»Kinder sterben wie die Fliegen, Miss Woods.«

Sie steckt sich auch eine Zigarette an. Die Flamme springt vom Streichholz beinahe auf eine widerspenstige Strähne ihres ansonsten ebenso streng wie gekonnt hochgesteckten Blondschopfes über.
»Keiner weiß das besser als ich, Mr. Solomon. Und ich weiß ebenfalls, dass sie nicht tot sind.«
»Sie wissen, dass sie nicht tot sind?«
»Wiederholen Sie alles, was ich sage?«
Sie hat recht, das tue ich. Schlechte Angewohnheit, aber leider obligatorisch: Immer dann, wenn der Bourbon mir die Stunden gestohlen hat und seine Krallen auch im hier und jetzt noch in jede jüngst verstrichene Sekunde schlägt. Zu allem Übel habe ich gegen Mitternacht, irgendwo zwischen Bienville und North Robertson, meinen Notizblock verloren.
»Entschuldigen Sie, Miss. Habe schlecht geschlafen.«
»Und zu wenig, wie mir scheint, Mr. Solomon. Genügend Schlaf ist die Mutter der Gesundheit.«
Aha.
Ich muss aufstoßen, drehe mich zur Straße.
»Bestimmt haben Sie recht, Miss Woods.«
Ohne Worte verständige ich mich mit dem Brechreiz, dass er gerade schlecht fürs Geschäft ist.
»Was gibt Ihnen Grund zu der Annahme, dass die Kinder nicht tot sind? Und warum kommen Sie damit ausgerechnet zu mir?«
»Die Kinder sind gesehen worden. In der Bletchley Road. Ich nehme an, Menschen wie Sie kennen sich dort aus?«
Menschen wie ich…
Ah, daher weht der Wind: Menschen wie ich gehen in solch eine Straße, im Gegensatz zu regelmäßigen Kirchgängern, alten und jungen Jungfern oder selbsternannten Wohltätern in dieser verfickt egoistischen Gesellschaft.
»Und wer hat sie dort gesehen?«
»Ein Straßenjunge, Taylor – ich weiß nicht, ob das sein Vorname oder Nachname ist. Er kommt hin- und wieder für etwas Suppe zu uns.«
»Ein Bettlerjunge hat Ihnen erzählt, was Sie hören wollten?«
»Er hätte seine Suppe auch so bekommen, wenn es das ist, was Sie meinen, Mr. Solomon.«

Da ist er wieder, der sich herabstürzende Adler in ihren Augen, der nichts als kalten Spott für die Welt übrighat. Die Nase darunter könnte indes tatsächlich einem Vogel gehören, allerdings einem sehr hübschen Vogel.
»Meinen Sie, dass sie entführt worden sind?«
»Möglich, aber wer sollte so etwas tun? Diese Kinder haben keine Eltern, keine Verwandten. Es gibt und gab nie jemanden, der sich für sie interessierte.«
»Wenn sie gesehen wurden – was sagt die Polizei dazu?«
»Bald ist Mardi Gras. Die Polizei hat anderes zu tun. Außerdem handelt es sich bei dem Zeugen um einen Bettlerjungen, der, ich zitiere: vielleicht nur sagt, was wir hören wollten.«
Sie ascht in meinen indischen Kolonialbecher – »Frevel!«, brüllt Dad durch meine Rübe – während sie ihre andere Hand zur Faust ballt.
»Dabei können Sie sich gar nicht vorstellen, welche Sorgen wir uns machen.«
»Okay, ich mach´s. Ich sehe mich dort mal für Sie um.«
Ein Spaziergang wird mir guttun. Ich muss eh zu Albright. Da kann ich die Kohle direkt abliefern.
»Macht zwei Stunden zum üblichen Stundensatz.«
»Der wäre?«
»Drei Mäuse.«
Ich pokere. Sie nickt entschlossen.
»In Ordnung.«
Verdammte Scheiße, sie hätte bestimmt auch Vier gezahlt…
Sie steht auf, steckt Geldscheine in einem Umschlag und reicht ihn mir.
»Da drin ist eine Fotografie der beiden aus dem letzten Jahr.«
Vollkommen überflüssig. Die Kinder sind nur zwei Blocks entfernt, tot oder lebendig, entweder ich finde sie in der nächsten Stunde oder nie. Ein Perverser ist's vielleicht gewesen. Der Straßenjunge hingegen hat bestimmt gelogen. Ein Perverser ist trotzdem am wahrscheinlichsten, bei Nacht und Nebel, die Kinder könnten schon bald in einem Keller in Virginia sein.
Wenn sie noch hier sind, werde ich das schnell rausfinden. So einer wie ich, der schafft das…
Aber hey, was ist das? – Die Kleinen scheinen der großen Kleinen echt wichtig zu sein. Läuft da eine Träne über die niedliche Raubvogel-Visage?
»Sie können hier warten, Miss Woods. Machen Sie es sich bequem.«
